Zehnmal Israel
Als der Flug aus Tel Aviv am 15. September letzten Jahres mit 20 Hermannswerderaner*innen in Schönefeld landete, endete zum 10. Mal eine Studienfahrt des Evangelischen Gymnasiums Hermannswerder nach Israel. 174 Schüler*innen reisten bisher unter Begleitung der Kolleg*innen Becker, Krull, Lunberg, Sachse und Steinbach nach Israel – Grund genug, einmal zurückzublicken!
Begonnen hatte alles damit, dass ich einige Dias (sic!) einer privaten Israelreise im Religionsunterricht zeigte und mein damaliger Schüler Benjamin Dähne (heute selbst Lehrer für Geschichte und Religion) fragte, warum es eigentlich keine Studienfahrt nach Israel gebe? Die Idee war geboren, doch benötigte sie noch einige glückliche Umstände, um sie in die Praxis umsetzen zu können. Zunächst bot sich ein Kontakt mit der Jugendeinrichtung Villa Wildwuchs an, um im folgenden Jahr einige unserer Schüler*innen nach Israel bringen zu können. Die Schule ermöglichte diese außerschulische Fahrt. Dann ergab ein sehr glücklicher Zufall, dass unser damaliger Referendar Michael Lunberg, der selbst für ein Jahr in Israel gelebt hatte, ein Thema für eine Examensarbeit suchte. Es entwickelte sich die Idee, die Arbeit unter den Titel „Planung, Durchführung und Analyse einer Studienfahrt nach Israel“ zu stellen. Dank seiner Hilfe und der Unterstützung durch das Kollegium und die Schulleitung konnten im darauf folgenden Jahr 2007 auf Grundlage seiner Arbeit 16 mutige Schüler*innen, die nicht wussten, was auf sie zukommt, den Weg nach Israel antreten.
Bald schon wurden wir von der Schulleitung gebeten, die Anzahl der Mitfahrer*innen zu erhöhen, weil die Anzahl der Erstwünsche ständig stieg. Auch die zuvor gesetzte Altersgrenze senkten wir ab: Durch die Schulzeitverkürzung war es kaum noch möglich, 18jährige Mitreisende zu finden.
Auch wenn das Grundkonzept weitgehend gleich geblieben ist, so gab es immer wieder Besonderheiten, die wir als Programmbestandteile prüften: Eine Fahrt auf den Golan, in den Baha’i-Garten von Akko, Aufenthalte in Akko, eine Tour auf einen Tafelberg im Negev mit einem furchterregenden Abstieg, der eigentlich nur dank der Bergsteigerkenntnisse von Valentin einigermaßen gelang, ein Schulbesuch im Kibbuz Manor Cabri, Begegnungen mit israelischen Schüler*innen in Naharija und mit arabischen Jugendlichen in Mazra‘a, die Besuche in der International School in Kfar Saba, die wir durch Noras Kontakte kennenlernten, ein Besuch im Verkaufszentrum der AHAVA-Produkte vom Toten Meer (Ruben Salomon: „Das interessiert mich eigentlich überhaupt nicht!“), eine Wanderung nach Massada, eine Teilnahme an einer israelischen(!) Demonstration gegen die jüdische Besiedlung des palästinensischen Ostjerusalems und ein Treffen mit dem Organisator dieser Demonstration, dem Professor David Shulman. Ein Besuch des israelischen Parlaments, der Knesset, des Herzlberges. Letztes Jahr nahm uns ein Sandsturm über Tage den Blick und lies uns schwer atmen. Der See Genezareth verschwand im Sandnebel, und die Schüler*innen kauften sich statt dessen Postkarten, um zu wissen, was man normalerweise sehen könnte! Auch manche Gewaltmärsche mussten sie über sich ergehen lassen, zum Teil mit vollem Gepäck, damit die Kosten nicht explodierten: Durch Tel Aviv bei 38 Grad, von der Jerusalemer Altstadt nach Yad Vashem und zurück. Sogar unser Reiseführer Yoseph Mubarki war beeindruckt, als wir auf einer eher verregneten Tour in der Wüste auf einen mit Regenwasser gefüllten Wadi stießen. Wo kamen in dieser unbewohnten Gegend nur plötzlich die vielen Menschen her, die die Chance nutzten, um ein Bad im Wadi zu nehmen? Das nächtliche Plätschern mitten in der Wüste, das wir durch die Teppichwände des Beduinenzeltes hörten, war irritierend und faszinierend zugleich.
Viele Personen vor Ort sind Freunde der Fahrt geworden, die sich auf unser Wiederkommen freuen und die Verständnis haben, wenn wir – wie z.B. während des Gaza-Krieges 2014 – überlegen, die Fahrt abzusagen. Neben dem bereits erwähnten Yoseph Mubarki, einem Nahost-Experten und großem Kenner der Wüste, sind das z.B. Tati Weiss, unsere langjährige Reiseführerin, die immer mit Rat und Tat zur Seite steht. Auch Batya von der International School in Kfar Saba, Ami von der Schule in Manor Cabri, Eran von der Tel Aviver Schule haben uns viele interessante Einblicke in Schulen ermöglicht. Mit einer Engelsgeduld ändern Yael im Hostel Hayarkon, Ruby im Ecce Homo in Jerusalem und Neta in Nes Ammim Buchungswünsche, wenn sich Anzahl der Teilnehmer*innen oder die Verteilung von Mädchen und Jungs ändert. Tolle Führungen in Lochamei haben wir mit Tamir und Tania erlebt – mit anderen hatten wir dort nicht gerade das größte Glück. Auch der Botschafter, Herr Kindermann muss genannt werden – wenn wir mittlerweile diesen Programmpunkt mit Michel von der deutsch-israelischen Außenhandelskammer doch wesentlich besser besetzt haben! Viele Male haben wir auch Annika getroffen, Tante mehrerer Mitfahrer und profunde Kennerin Israels, die uns am Strand von Tel Aviv oder auf dem Dach des Hostels viel über das Land erzählen konnte, und die auch weiß, was es mit den schalosch baqbuq jajn lavan auf sich hat.
Gerne möchte ich ein vorläufiges Fazit ziehen, ob die Fahrt die Ziele erreicht hat, die mir wichtig waren: Eines der Hauptziele der Fahrt, das Beobachten und das Nachdenken über Religion und Religionen erscheint mir immer wieder erreicht zu werden. Es ist wunderbar, in den grünen Hügeln von Galiläa und am See Genezareth, im kargen judäischen Bergland oder innerhalb der jerusalemer Stadtmauern die Kulissen für die biblischen Erzählungen wahrzunehmen und den spiritus loci zu erspüren. Und gleichzeitig führt es zu einer zum Teil sehr fundamentalen Reflexion über die eigene Religiosität. So fragte sich Hannah von Bülow, was das Treiben in der Grabeskirche eigentlich mit ihrer Religion zu tun habe, und Rebecca Weicht stellte als engagierte Katholikin fest, dass sie vom Petersdom in Rom wesentlich ergriffener war, obgleich die Nähe zu Jesus doch hier viel intensiver sein müsste. Der augenscheinliche Fundamentalismus wie er im jüdisch-orthodoxen Stadtviertel Mea Shearim zu sehen ist führte aufgrund der starren Verhaltensregeln und der Nachlässigkeit, mit der die Bewohner ihr Viertel behandeln, einerseits zu einiger Verblüffung – so auch als ein Junge uns beschimpfte und vor uns ausspuckte, als Antonia Wild gerade einen Text vorlas – und andererseits wurden Lasse Hansen, Christian Weyer und Balthasar von Stülpnagel in eine Jeschiwa eingeladen und kamen reichlich fasziniert wieder zurück.
Die Shoah und unser eigenes Selbstverständnis als Deutsche ist ebenfalls ein Punkt, der jedes Jahr erneut berührt. Nicht selten führt der Besuch von zwei ganz unterschiedlichen Shoah-Museen – das Beith Lochamei HaGhettaot und Yad Vashem – zu intensiven Auseinandersetzungen über Erinnerungskultur, und oft kommt es plötzlich zu einem Austausch über die eigene Familiengeschichte und Debatten über die Frage nach der eigenen Schuld. Sehr hilfreich ist dabei, dass wir normalerweise im ganzen Land mit größter Freundlichkeit und ohne Vorwürfe aufgenommen werden. Es setzt sich immer mehr durch, dass die Debatte um die Schuld abgelöst wird durch ein Einverständnis, dass wir alle eine Verantwortung tragen, eine Wiederholung dieses Menschheitsverbrechens unbedingt zu verhindern.
Dagegen muss die Lösung des Nahostkonflikts leider auch weiterhin noch ein Fernziel bleiben. So sind wir momentan noch relativ froh, dass sich trotz einer spürbaren Verschärfung des Konflikts und der bleiernen Unbeweglichkeit der Politik die Situation für uns jedes Jahr wieder neu als sicher darstellt. Mein Wunschtraum, dass es Hermannswerderaner sein könnten, die eines Tages diese verstrickte Situation lösen können, hat noch viel Potenzial, ist aber keinesfalls ausgeträumt (Maxim Mersini: „Challenge accepted“).
Hoffnung gibt mir dabei, welche Wirkung unsere zehnmalige Fahrt schon erzielt hat. Viele hat es später nochmal nach Israel gezogen, so haben Birk Kowalski und Sophie Oerke dort ein FSJ gemacht, Pauline Stolte hat in der Bildungsabteilung von Yad Vashem gearbeitet, Johannes Sandner und Ida Richter haben in Jerusalem Auslandssemester verbracht, Niklas Vogel und Bobo Mertens waren Volontäre in Nes Ammim, Grete Eschrich betreibt Nahoststudien, Constanze Fetting war mit einer NGO im Westjordanland, Lena Engel nahm am Walk about love teil, und viele andere waren dort, um Freunde zu besuchen oder um nochmal auf eigene Faust das Land zu erkunden. Es hat sich ein wunderbar großes Netzwerk entwickelt, zu dem auch andere Schüler*innen der Schule und zahlreiche Eltern gehören, die nach Informationen für eigene Reisen oder ein FSJ fragen, die Erlebnisberichte schicken, Film- und Literaturtipps geben, Kontakte vermitteln und sich immer wieder als Fachleute anbieten, die unseren Gruppen vor Ort ihre Erlebnisse und Erfahrungen schildern können, wie z.B. auch Christian Heyn und Wieland Seibt.
Wenn die Fahrt dazu beigetragen hat, das Interesse an dem Land zu wecken oder zu verstärken, und wenn die Erzählungen der Teilnehmenden dazu geführt haben, auch für andere die Schwellen zu senken, dann sind wir auf einem guten Weg. Und wenn die Fahrt weiterhin so gut angenommen wird, dann freue ich mich, wenn ihr noch ein langes weiteres Leben beschieden sein wird.
(Thorsten Becker, Ev. Religionslehre, Geschichte, Politik)