Bunt, poetisch und authentisch

Wie alles begann

Die 8. Klassen spielten vom 22. bis 26. Januar 2016 „Momo oder das Geheim-
nis der Zeit“, frei nach Michael Ende

Die Schildkröte macht alles richtig. Sie frühstückt. Die ganze Zeit, über zwei volle Stunden lang, ein Salatblatt nach dem anderen. Währenddessen überschlagen sich in der Aula des Ev. Gymnasiums die Ereignisse. Kinder tollen über sämtliche Bühnen, treffen sich, spielen fröhlich miteinander und verabschieden sich.
Aber auch die Erwachsenen geben sich, zunächst, ganz friedlich und gemütlich.
Der Friseur frisiert, der Straßenfeger fegt, der Wirt bewirtet.

Die „Touris“ touren von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit, und die italienische Bevölkerung streitet sich über Nichtigkeiten und verträgt sich wieder.
Das Leben könnte so schön sein, wären da nicht die „grauen Herren“, die mit „Zeitsparverträgen“ für Effizienz und Hektik sorgen. Zeit sei Geld und Geld sei wichtig. Alles andere wäre Zeitverschwendung. Mit diesem Virus infizieren sie nach und nach alle Protagonisten, zuerst die wenig immunen Erwachsenen, dann, leider auch die Kinder. Nur die in sich ruhende Schildkröte erwischen sie nicht, und die kleine, barfüßige Momo, Liebling aller Kinder. Die fliehen in ihrer Not zu Meister Hora. Bei ihm finden beide Gehör, wie man die Welt retten könne. Man müsse einfach mal die Zeit anhalten, den Augenblick genießen, Auszeiten nehmen, einfach mal füreinander da sein: der Wirt für seine Gäste, der Friseur für seine Kunden, Eltern für ihre Kinder. Zeit haben zum Geschichten-Erzählen, zum Murmelspielen. Ein Märchen? Vom Märchenerzähler Michael Ende (1929 – 1995), so nach dem Motto „Es war einmal…“? Nein, nein, nein, der Erfolgsautor der „Unendlichen Geschichte“ mischt sich nach wie vor mit Phantasie und bissiger Poetik in unser Leben ein, fegt mit kühnem Schwung alle lieblosen „Ersatzspielzeuge“ und „Erfolgs-Rituale“ auf die Müllhalde der Zivilisation und zeigt unverdrossen auf die Schildkröte: Lauft langsam, haltet ab und an mal inne, vor allem Freundschaften, und frühstückt in aller Ruhe. Wenn das keine Botschaft ist!Genau die kommt bunt, poetisch und sehr authentisch über die Bühne, fünf Tage in Folge!!!! Was dahinter für eine Wahnsinns-Arbeit steckt, kann man nur vermuten. Eines aber ist sicher, die Projekt-Mannschaft unter der Leitung von Ulrike Rüss und Alexander Wallraf hat wirklich ganze Arbeit geleistet. 109 Acht-Klässler wurden für Michael Ende begeistert, haben zauberhafte Kostüme genäht (Leitung: Katie Schasse und Manuela Milinski), treffliche Masken und Bühnenbilder (Nathalie Robbins und Boris Ramien) entworfen – und erstaunlich lebendig gespielt. Zum Beispiel schräge „Touris“, lebendige Kinder, langsame Schildkröten und furchteinflößende „graue Herren“. All das geriet zum Hingucker. Und wurde trefflich dokumentiert (Leitung: Hannes Immelmann). Jugendliche sind in diesem Alter in der Regel auf der Suche nach sich selbst, stellen alles, oft auch sich selbst in Frage, und scheuen eigentlich die Öffentlichkeit. Nicht so auf Hermannswerder. Da bebt die 8.-Klassen-Bühne, da staunt der Laie, und der Fachmann wundert sich, seit vielen, vielen Jahren schon, genau genommen seit 1996. Mit „Red Leg“ hat diese Tradition begonnen. 20 Jahre ist das her… Was für eine schöne Tradition!!! Zum absoluten Hinhörer 2016 aber avancierte die eigens für diese Inszenierung komponierte Musik von Bernhard Opitz. Der erkundigte sich vorab nach der zu erwartenden instrumentalen Besetzung und schnitt den Musikern an Harfe, Gitarre, Klavier, Flöte, Violine, Saxophon, Xylophon, Kontrabass und Percussion alles passgerecht auf den Leib. Ein Genuss, dieses Ensemble unter der hochkonzentrierten Leitung der sympathischen Kapellmeisterinnen Andrea Brüsch und Juliane Kloss zu erleben, mit den gar nicht so einfachen Leitmotiven („Momo“, „Graue Herren“, „Cassiopeia“). Nicht zu vergessen der siebenköpfige „Girly-Chor“, der auch schwierige vokale Partien immer besser zu meistern verstand. Übrigens alles auswendig! Alles in allem: „Momo“ hat uns Zeit geschenkt, kostbare Zeit, ganz ohne Hektik, Zeit zum Innehalten, Schmunzeln, Wundern und Liebhaben. Da ist eine wunderschöne Geschichte erzählt worden, und alle haben zugehört, aufmerksam, andächtig und ausgesprochen dankbar.

Text und Fotos: Andreas Flämig